Texte für die Seele

Das Brüllen des Erwachens

Die Mutter eines Tigerjungen war bei seiner Geburt gestorben. Während ihrer Trächtigkeit war sie viele Tage auf Raub ausgegangen, ohne eine Beute zu finden, bis sie zu jener Herde wild umher streifender Wildziegen gelangte. Inzwischen war die Tigerin heißhungrig geworden, und das mag die Heftigkeit ihres Sprunges erklären; jedenfalls trieb die Gewalt des Ansprunges ihr die Frucht aus dem Leib, und vor Hunger und Kälte starb sie alsbald. Das Neugeborene, das neben der toten Mutter leise wimmerte, wurde von den Ziegen, die nach dem Schrecken wieder auf ihre Weide zurückkehrten, mit mütterlicher Liebe aufgenommen, und sie zogen es mit ihrer Milch gemeinsam mit den Zicklein auf. Es wurde unter den Ziegen groß und lohnte ihnen ihre Mühe. Denn der kleine Tiger lernte die Ziegensprache, passte seine Stimme ihrem sanften Meckern an und zeigte ebensoviel Anhänglichkeit wie die anderen Jungen der Herde. Anfangs viel es ihm schwer, die dünnen Grashalme mit seinen spitzen Zähnen zu rupfen, aber irgendwie gelang es ihm schließlich. Die Pflanzenkost hielt ihn mager und verlieh seinem Temperament eine beachtliche Sanftmut.

Als der junge Tiger unter den Ziegen das Vernunftalter erreicht hatte, wurde die Herde eines Nachts wieder angefallen; ein starker alter Tiger brach unter sie ein, und wiederum stoben alle auseinander. Nur das Tigerjunge blieb furchtlos stehen und starrte das schreckliche Dschungelwesen verblüfft an. Auch der große Tiger verwunderte sich über den Kleinen, der erst verdutzt dastand, schließlich verlegen einen Grashalm rupfte und meckernd daran kaute, während der alte Tiger ihn immer noch anstarrte.

Plötzlich fragte der mächtige Eindringling: „Was tust du hier unter den Ziegen? Was kaust du da?“ Das sonderbare kleine Wesen meckerte. Der Alte wurde nun wirklich furchterregend. Er brüllte: „Was soll dieser alberne Laut?“ Und ehe der andere antworten konnte, packte er ihn beim Kragen und schüttelte ihn tüchtig, wie um ihn wieder zur Besinnung zu bringen. Danach schleppte der Dschungeltiger das erschrockene Junge zu einem nahen Teich, stellte es an den Rand und ließ es in den monderhellten Spiegel blicken. „Schau dein Bild im Wasser an – bist du nicht ganz wie ich? Du hast genau wie ich das Vollmondgesicht eines Tigers. Warum bildest du dir ein, eine Ziege zu sein? Warum meckerst du? Warum frisst du Grashalme?“

Der Kleine vermocht nicht zu antworten, starrte aber weiter die beiden Spiegelbilder an und verglich sie. Dann fühlte er sich unbehaglich, trat von einer Tatze auf die andere und gab wieder einen bekümmerten zittrigen Schrei von sich. Der grimmige Alte packte ihn erneut und trug ihn bis zu seiner Höhle, wo er ihm ein von seinem letzten Mal übrig gebliebenes Stück blutigen rohen Fleisches vorlegte. Das Tigerjunge schüttelte sich vor Ekel. Aber der Dschungeltiger kümmerte sich nicht weiter um das schwache Protestmeckern, sondern befahl schroff: „Nimm das! Friss! Schluck es hinunter!“ Das Junge sträubte sich, aber der Alte zwang es ihm zwischen die Zähne und wachte darüber, dass es die Nahrung kaute und hinabschlang. Mit kläglichem Meckern würgte es die ersten Bissen der ungewohnten zähen Kost hinunter, bald aber fand es Geschmack am Blut und fraß den Rest mit einer Lust, die seinen Leib wie ein Wunder durchdrang. Es leckte sich die Lefzen, erhob sich und riss das Maul zu einem riesigen Gähnen auf, so als erwachte es aus tiefem Schlaf – einem Schlaf, der es jahrelang in seinem Bann gehalten hatte. Es streckte sich, machte einen Buckel, hob die Tatzen und zeigte die Krallen. Sein Schweif peitschte den Boden, und plötzlich brach aus seiner Kehle ein furchterregendes triumphierendes Tigerbrüllen.

Währenddem hatte es der grimmige Lehrer prüfend und mit zunehmender Befriedigung beobachtet. Die Verwandlung war tatsächlich geglückt. Als das Brüllen verstummt war, fragte er mürrisch: „Weißt du jetzt, was du wirklich bist? Komm mit mir in den Dschungel, du sollst lernen, der Tiger zu werden, der du immer schon warst.“